2017 steht die Europäische Union vor noch nie dagewesenen Herausforderungen. Im Osten des Kontinents stellt Russland durch die Annexion der Krim internationale Verträge in Frage, im Süden wird Europa durch den islamistischen Terrorismus und zerfallende Staaten bedroht und Präsident Trump stellt die Bündnisverpflichtung der USA in Frage. Der Ruf nach einer stärkeren und unabhängigeren europäischen Kooperation und Integration in Verteidigung und Sicherheit ist daher groß. Doch welche Herausforderungen müssen hierbei noch gemeistert werden? Ist eine "Europäische Armee" überhaupt vorstellbar?
Diesen Fragen haben sich am 19. Mai in Göttingen die Teilnehmer der Diskussionsveranstaltung "Die Europäische Armee - Utopie oder Notwendigkeit?", organisiert von der Göttinger Hochschulgruppe des Bundesverbands Sicherheitspolitik an Hochschulen (BSH) und der Paneuropa-Jugend Deutschland e.V., gestellt. Als Referenten konnten an diesem Abend Michael Gahler, Sicherheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament und Vizepräsident der Paneuropa-Union Deutschland, und Hauptmann Constantin Götze, Jugendoffizier in Göttingen, begrüßt werden.
Beide Referenten berichteten aus ihrem jeweils eigenen Blickwinkel über den aktuellen Stand des Projekts "Europäische Armee". Michael Gahler betonte, dass mittlerweile die drei Hauptbedingungen für eine sichtbar stärkere Kooperation in europäischen Verteidigungsfragen, nämlich knappe finanzielle Budgets, äußere Krisen und eine nicht mehr hundertprozentige Verlässlichkeit der USA, zur selben Zeit zutreffen. Dadurch konnten in den letzten Monaten endlich lange geplante Vorhaben wie die Schaffung eines operativen Hauptquartiers für EU-Trainingsmissionen oder eines gemeinsamen Finanzbudgets zur Verteidigungsforschung umgesetzt werden. Der Begriff "Europäische Armee" sei jedoch nicht zielführend, da darunter eine Vielzahl von verschiedenen Konzepten verstanden wird, deren Umsetzbarkeit fraglich ist. Der EU-Parlamentarier schlug daher einen pragmatischen Ansatz vor, indem man neben den weiterhin bestehenden nationalen Armeen komplett neue europäischen Armeen aufstellt, zu denen sich jeder EU-Bürger direkt freiwillig melden könne, und die am selben Material, in einer einzigen Sprache und nach demselben Vorbild ausgebildet werden. Finanziert sollen diesen Einheiten werden durch ein gemeinsames Budget und kontrolliert durch das Europäische Parlament oder den Rat.
Einen spannenden Einblick in die gelebte Praxis konnte Hauptmann Constantin Götze bieten. So begrüßte er zwar die Schaffung von multinationalen Einheiten, bemängelte jedoch die fehlende Zusammenarbeit unterhalb der Bataillonsebene. So würden etwa in der deutsch- französischen Brigade die jeweiligen Soldaten im normalen Dienstalltag kaum Berührungspunkte miteinander haben. Hauptsächliche Hindernisse seien hierbei unterschiedliches Material, ein anderes Ausbildungs- und Führungsverständnis oder einfach die Sprache. Dies führe auch dazu, dass die Brigade nie geschlossen in den Einsatz geht, sondern immer nur getrennt nach den nationalen Truppenteilen. Dazu komme der Parlamentsvorbehalt auf deutscher Seite, der eine Entsendung von Truppen ins Ausland deutlich anspruchsvoller macht als in Frankreich, wo es lediglich den Befehl des Präsidenten bedarf. Der Jugendoffizier schloss sich dabei der Aussage Michael Gahlers an, dass "Deutschland französischer und Frankreich deutscher" werden müsse. Kritisiert wurde zudem auch die Art und Weise, wie der neue Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum der Bundeswehr aufgestellt worden ist. Anstatt eines nationalen Alleinganges hätte man vielmehr ein gemeinsames europäisches Cyberkommando gründen können, welches durch ein viel größeres finanzielles Budget über erstklassiges Material und Personal verfügen würde. Sowohl für die Referenten als auch für die übrigen Teilnehmer konnten durch den gegenseitigen Austausch viele neue Erkenntnisse und Anregungen für die Zukunft mitnehmen.
Autor: Roman Wienbreier
Quelle Foto: Pressestelle EP